Otto von Habsburgs Leben ist vielen Menschen durch seine persönlichen Zeugnisse, Biographien und die über ihn geschriebenen Artikel bekannt. Unsere Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, dieses Bild durch den von uns verwalteten sehr bunten Nachlass zu nuancieren.
Unsere Fotosammlung und das Schriftgut liefern zahlreiche Hinweise auf die Beziehung zwischen dem Erzherzog und der Pfadfinderschaft. Vor neunzig Jahren fand das Welttreffen dieser bedeutenden und berühmten Jugendbewegung in Gödöllő statt.[1] An dem sogenannten 4. World Scout Jamboree – das vom 1. bis 15. August 1933 stattfand und zu den bedeutendsten Ereignissen in Ungarn und auf internationaler Ebene zwischen den beiden Weltkriegen gehörte – nahm Otto von Habsburg, der damals an der Katholischen Universität von Löwen studierte, nicht teil. Bei dem nachfolgenden Treffen in den Niederlanden im Jahre 1937 war er jedoch anwesend.[2]
Vor genau dreißig Jahren, im Juli 1993 fand ein internationales Pfadfinderlager in Dénesfa, im Komitat Győr-Moson-Sopron statt. Bei diesem Lager bat Gusztáv Jäckel, der Leiter der Pfadfindergruppe Nr. 364 Scarbantia, den Namensgeber unserer Stiftung die Schirmherrschaft zu übernehmen.[3] In unserer Sammlung befindet sich die Pfadfinderurkunde, die dem Erzherzog am 27. Januar 1996 in Nyíregyháza ausgestellt wurde.[4] Laut dieser – wenn auch unvollständigen – Urkunde ist Otto von Habsburg zertifiziertes Mitglied des Ungarischen Pfadfinderverbandes in der Pfadfindergruppe Nr. 1947 Szent Miklós {Sankt Nikolaus}. Neben diesen erhaltenen Gegenständen kann man vor allem aus dem Schriftgut erfahren, welche Rolle die Pfadfinderschaft im Leben von Otto von Habsburg spielte.
Von dem ungarischen Pfadfinderbund für Otto von Habsburg ausgestellte Urkunde
In einem Brief vom 16. September 1995 gestand Otto von Habsburg, dass er sich seit seiner Kindheit zu den Pfadfindern und ihrem positiven Einfluss auf die Jugend hingezogen fühlte.[5] Der ehemalige Thronfolger hatte als Kind mehrmals Mitglieder der Baden-Powell-Jugendbewegung getroffen. Ein wichtiges Ereignis für ihn war, als er von ungarischen Pfadfindern in Spanien besucht wurde. Diese Begegnung wurde in Kálmán Radványis belletristischem Werk Cserkészúton Spanyolföldön {Auf Pfadfinderreise in Spanien} festgehalten. Radványi war ein beliebter Jugendschriftsteller zwischen den beiden Weltkriegen und selbst Pfadfinderführer. Einer der Schauplätze seines mehrfach veröffentlichten Buches ist Lequeitio, das baskische Fischerdorf, in dem die königliche Familie in den 1920er Jahren lebte. Laut der Geschichte verließen der Oberbefehlshaber der ungarischen Truppe, der Benediktinermönch Dr. Mattyasovszky Kasszián, und einige Jungen die Truppe nach dem Jamboree in England im Jahr 1929, um am großen spanischen Nationallager in Barcelona teilzunehmen. Auf ihrer Reise besuchten sie unter anderem Otto vom Habsburg und seine Familie.[6] Laut der ungarischen Pfadfinderzeitschrift ist ,,der Teil des Buches, in dem die ungarischen Pfadfinder ihr Treffen und die Zeit mit der königlichen Familie beschreiben, eine besondere Sensation.” [7]
Pfadfinder in Lequeitio, 1929
Später wurde dieser Artikel an Otto von Habsburg geschickt. In einem Brief vom 7. Januar 1991 schrieb der ehemalige Thronfolger, dass er sich über dieses Kapitel des Buches freue, da es ihn an schöne alte Erinnerungen erinnere.[8] Das Treffen mit den Pfadfindern wird auch in der von Emil Csonka, einem engen Vertrauten von Otto von Habsburg, verfassten Biografie erwähnt.[9] Darin wird neben anderen besonderen Erlebnissen in Lequeitio erwähnt, dass der Thronfolger aus dem Fenster kletterte, um sich der ,,Pfadfinderschar von zu Hause” anzuschließen, die ihm ein Ständchen brachte.[10] Dieses Ereignis, an das sich viele erinnern, wird von Otto von Habsburg selbst in seinem Artikel über die Pfadfinder von 1981 folgenderweise beschrieben: ,,Mit meiner Mutter und meinen Geschwistern lebten wir zwischen in dem baskischen Fischerdorf Lequeitio, an der Atlantikküste am Fuße der Pyrenäen. Und dann kam plötzlich eine ungarische Pfadfindergruppe von der Donau zu Besuch, und Jungen und Mädchen in meinem Alter und ich machten ein Lagerfeuer im Garten unseres Hauses, und an diesem Abend fühlte ich mich wieder zu Hause in der Landschaft meiner Kindheit, zu Hause in Gödöllő, und spielte wieder im Geiste mit meinen alten Freunden.”[11]
Über Otto von Habsburgs persönliche Anwesenheit bei dem oben erwähnten Weltpfadfindertreffen in den Niederlanden gibt es fotografische Aufzeichnungen.[12] Obwohl der Erzherzog nicht an dem Jamboree in Gödöllő teilnahm, schickten seine Korrespondenten ihm mehrere Bilder von der Veranstaltung. Das Weltpfadfindertreffen in den Niederlanden war das letzte Jamboree vor dem Zweiten Weltkrieg, und es war auch das letzte Treffen, an dem Robert Baden-Powell, der Gründer der Pfadfinderbewegung, teilnahm. Im Bericht der legitimistischen Tageszeitung mit dem Titel Új Nemzedék {Neue Generation} vom August 1937 wurde die Anwesenheit des 25-jährigen Thronfolgers besonders erwähnt: ,,Das herausragendste Ereignis des Lagers war der Besuch von König Otto II. [sic].”[13] Auch in der Korrespondenz von Otto von Habsburg fanden wir Informationen über dieses Treffen. Zwei Briefschreiber überraschten den Erzherzog mit selbst aufgenommenen Fotos aus den Jahren 1987 und 1990.[14] Otto von Habsburg schrieb in seinem Dankesbrief: ,,Ich erinnere mich gerne und sehr gut an das Jamboree in Vogelenzang, an dem ich mit Graf Teleky [sic] [15] teilgenommen habe. Während des Zweiten Weltkriegs waren viele meiner persönlichen Erinnerungsstücke verloren gegangen, so dass ich mich besonders über die Fotos gefreut habe, die Sie mir geschickt haben.”[16] In der Tat taucht Otto von Habsburgs Figur in den veröffentlichten Berichten im Zusammenhang mit dem 5. Weltpfadfindertreffen oft auf. Ein Beispiel dafür ist der Artikel von Dr. Endre Bánk, der im Februar 1990 auf der Titelseite der Zeitung mit dem Titel Keszthelyi Hírlap erschien.[17] Bei dem Treffen, das in einer ungezwungenen Atmosphäre stattfand, überzeugte der Erzherzog die Teilnehmer –meist Ungarn – vor allem durch seine Sprachkenntnisse und sein freundliches Auftreten.
Otto von Habsburg an dem 5. World Scout Jamboree in den Niederlanden
Otto von Habsburg verfolgte die Tätigkeit der Pfadfinderschaft sein ganzes Leben lang und stand mit vielen bekannten Persönlichkeiten der Pfadfinderbewegung in Kontakt. So stand er über viele Jahre im Briefwechsel mit dem konservativen schwedischen Schriftsteller Arvid Fredborg, der selbst Pfadfinder war, und mit Friedrich von Perko-Greiffenbühl, der zu der Organisation Europa Scouts gehörte.[18] Im ungarischen Kontext ist unter anderem György Kölley[19] zu erwähnen, ein katholischer Priester, der eine Pfadfindergruppe in München leitete.[20] Im Sommer 1970 wurde Otto von Habsburg von György Kölley und andere Offiziere des Europäischen Jubiläumslagers in Stockholm empfangen.[21] Diese Geste zeigt, dass die Leiter der Pfadfinderbewegung mit Otto von Habsburg rechneten. Man muss auch Graf János Hoyos erwähnen, ehemaliger Präsident des ungarischen Pfadfinderverbandes, der ebenfalls enge Beziehungen zum ehemaligen Thronfolger hatte.[22] In einem Brief an János Hoyos vom 26. März 1981 schrieb Otto von Habsburg, dass er sich sehr freut, dass der Vorsitz des Rates des Pfadfinderverbandes in den Händen des Grafen liege.
Györgys Kölley Brief an Otto von Habsburg, 1985
2. számú kép HOAL I-2-b-Kölley György 1985
György Kölley und die Offiziere begrüßen Otto von Habsburg, 1970
3. számú kép HOAL I-2-b-Szabó Ödön 1970
Weitere Informationen zur Pfadfinderschaft findet man auch in Ottos Korrespondenz mit Fürstprimas József Mindszenty. 1972 schickte Mindszenty ihm den Bericht über die Aktivitäten des ungarischen Pfadfinderverbandes aus dem Jahr 1971. In seinem Antwortschreiben betonte der Erzherzog, dass er sich sehr über die Zusammenarbeit des Primas mit den Pfadfindern freue.[23]
Nach 1989 wurde Otto von Habsburg zu zahlreichen Pfadfinderprogrammen in verschiedenen Orten Ungarns eingeladen und schrieb selbst viele Grußschreiben an die Leiter der wiedergeborenen Pfadfinderbewegung.[24] Einige Beispiele für seine Teilnahme an Pfadfinderveranstaltungen gibt es in der Korrespondenz im Zusammenhang mit Ungarn. Aus den Briefen aus dem Jahre 1989 geht hervor, dass sogar der Rang des Oberpfadfinders ihm angeboten wurde, den er aber schließlich ablehnte, weil er in der Tat keine Aufgaben übernehmen konnte.[25] 1996 organisierten die Pfadfinder anlässlich des 1100-jährigen Jubiläums der ungarischen Eroberung des Karpatenbeckens ein Gedenklager in Nyíregyháza und baten Otto von Habsburg, die internationale Schirmherrschaft der Veranstaltung zu übernehmen. Er stimmte dem gerne zu und schrieb in seinem Antwortschreiben an István Horváth jr., den Organisator des Lagers, Folgendes: ,,Ich freue mich sehr, dass die Pfadfinder, eine Bewegung, die für unsere Nation von großem Wert ist, bereit sind, ein Gedenklager im östlichsten Komitat zu organisieren, um an die 1100 Jahre zu erinnern, die die Ungarn im Donaubecken verbracht haben.”[26] In diesem Sinne enthüllte er im März 2002 die Pfadfinderfahne auf dem Dugonics-Platz in Szeged.[27]
Otto von Habsburg betonte immer wieder, wie positiv er die Pfadfinderbewegung für das Leben der ungarischen Nation einschätzte. ,,Ich weiß aus langer Erfahrung, was für einen großen Wert die Pfadfinderbewegung für unsere Gesellschaft bedeutet” – schrieb der fast 90-jährige Otto von Habsburg am 12. März 2002 in Kassa anlässlich des zehnjährigen Bestehens der örtlichen Pfadfindergruppe Ferenc Rákóczi II.[28] Die Pfadfinderschaft diente klar definierten, konkreten Zielen, die er selbst in seiner Arbeit schätze. Dazu gehörten die Aussöhnung der Völker des Donaubeckens, der Aufbau internationaler Beziehungen und die Erziehung junger Menschen. Außerdem hielt er die Pfadfinderbewegung für ein wichtiges Mittel, um die ungarische Sprache in der Emigrantengemeinschaft zu erhalten.[29]
Otto von Habsburg fasste seine Wertschätzung für die identitätsbewahrende Tätigkeit der Pfadfinder in seiner Publikation mit dem Titel Magyar cserkészek örök missziója {Die ewige Mission der ungarischen Pfadfinder}[30] zusammen, die im Archiv der Otto-von-Habsburg-Stiftung aufbewahrt wird.
Eszter Gaálné Barcs
[1] Der Leiter des Jamboree-Lagers war Graf Pál Teleki, der zu der Zeit Ministerpräsident war, als Otto von Habsburgs Vater, Karl IV., 1921 versuchte, den ungarischen Thron zurückzuerobern (der Versuch ist auch als königlicher Osterputsch bekannt). Die Verbindung zwischen Otto von Habsburg und dem Jamboree in Gödöllő besteht darin, dass die Pfadfindergruppe Nr. 560 König Karl IV. (später András Jelky) aus Baja am Welttreffen teilnahm. Am 7. Mai 1933 war die verwitwete Königin Zita die ,,Mutter der Fahne” bei der Fahnenweihe der Truppe. György Cserba: 560. IV. Károly Király Cserkészcsapat Emlékei Baja, 1991. (fényképalbum) {Erinnerungen der Pfadfindergruppe Nr. 560 König Karl IV. von Baja, 1991 (Fotoalbum)} HOAL I-5-b 9-36; Keresztény Élet, 20. April 1997, S. 8
[2] Der Leiter der ungarischen Pfadfinder war der Oberpfadfinder von Ungarn, Graf Pál Teleki.
[3] HOAL-I-2-c-Jäckel Gusztáv 16. März 1993
[4] Siehe Bild Nr. I.
[5] HOAL-I-2-c-Gyetvay-Grivičič Iván 16. September 1995
[6] Kasszián Mattyasovszky: Az angliai cserkészjamboree a mi szempontunkból. (Das Pfadfindertreffen in England aus unserer Sicht); Pannonhalmi Szemle, 1929, 1, S. 580-587
[7] Magyar Cserkész {Ungarische Pfadfinder}, 1930, S. 23. Das fünfte Kapitel des Buches mit dem Titel Warmäugige Mutter, acht Waisenkinder handelt von der Begegnung zwischen den Pfadfindern und der königlichen Familie.
[8] HOAL-I-2-c-Boromisza Tamás 7. Januar 1991
[9] Emil Csonka: Habsburg Ottó. Egy különös sors története. {Otto von Habsburg: Die Geschichte eines seltsamen Schicksals}. Új Európa, München, 1972, S. 132
[10] Ebd. S. 132
[11] HOAL-I-2-b-Hoyos János 1981. Die königliche Familie besuchte Gödöllő am 23. Oktober 1918. Der Besuch wird in der Historia Domus der römisch-katholischen Pfarrei von Gödöllő beschrieben. Die Quelle berichtet, dass sich die königliche Familie sehr gut amüsiert hat. Besonders erwähnt wird die Freundlichkeit des kleinen Thronfolgers und die Tatsache, dass der König nur Ungarisch sprach. VPKL Gödöllő Historia Domus 1914-1995, S. 33
[12] Das Foto, das sich im Besitz des Fotoarchivs der MTI Zrt. befindet, kann HIER angesehen werden. (Heruntergeladen: 21. Juni 2023)
[13] Új Nemzedék, 6. August 1937, S. 7
[14] HOAL-I-2-c-Farkas János 8. Juni 1990, HOAL-I-2-b-Dr. Dolányi Kovács Géza 9. September 1987
[15] Graf Pál Teleki
[16] HOAL-I-2-b-Dr. Dolányi Kovács Géza 9. September 1987
[17] Keszthelyi Hírlap, 2. Februar 1990, S. 1
[18] Die jahrzehntelange Korrespondenz zwischen Arvid Fredborg und Otto von Habsburg ist in dem Archiv unserer Stiftung aufbewahrt. Der umfangreiche Briefwechsel enthält eine Vielzahl von Inhalten. Arvid Fredborg war ein aktiver Teilnehmer an den Netzwerkaktivitäten Otto von Habsburgs.
[19] In Pfadfinderkreisen wird er ,,Onkel Gyurka” genannt. Új Európa, 1982, 1, S. 19
[20] Siehe Bild Nr. 2 HOAL-I-2-b-Kölley György 25. Dezember 1985
[21] Siehe Bild Nr. 3 HOAL-I-2-b-Szabó Ödön 1970
[22] Graf Dr. János Hoyos (1915-2003), der das Konzentrationslager in Recsk überlebt hatte, emigrierte nach der ungarischen Revolution von 1956 und arbeitete als Arzt in New York. Er war der Leiter des ungarischen Malteserordens in Amerika und ein aktiver Organisator der ungarischen Pfadfinderschaft. http://www.magyarkronika.com/magazin/0219.htm
[23] HOAL-I-2-b-Mindszenty József 26. Mai 1972
[24] Am 27. Januar 1989 begrüßte er die Wiedergeburt der ungarischen Pfadfinderschaft, insbesondere der Pfadfinderschaft in Pécs. Pécsi Szemle, 2002, S. 75
[25] HOAL-I-2-c-Falus Ottó 20. März 1989
[26] HOAL-I-2-c-ifj. Horváth István 12. Januar 1996
[27] Délmagyarország, 4. März 2002, S. 1
[28] HOAL-I-2-c-Csajka Tamás 12. März 2002
[29] Habsburg Ottó: A 21. évforduló {Otto von Habsburg: Der 21. Jahrestag}. Új Európa, 1977, 6, S. 5
[30] Magyar világ {Ungarische Welt}. Új Európa, 1982, 1, S. 19