Unter den europäischen Ländern widmete der Namensgeber unserer Stiftung den politischen Ereignissen in Frankreich besondere Aufmerksamkeit. Otto von Habsburg – darüber hinaus, dass er sich wegen seiner bourbonischen und lothringischen Wurzeln auch ein bisschen als französisch betrachtete – lebte jahrelang in der Nähe von Paris und hatte ausgezeichnete Beziehungen zu der französischen politischen Elite.[1] In den 1930ern verbrachte er viel Zeit in der französischen Hauptstadt, besonders im Hotel Cayré auf dem Boulevard de Raspail und verfolgte die Debatten der Parlamentarier von der Tribüne der Nationalversammlung. Zwischen 1946 und 1954, nachdem er aus dem besetzten Österreich verwiesen wurde, war er viel unterwegs, aber sein ,,Hauptquartier“ war in Frankreich. Nach seiner Hochzeit in Nancy, wohnte er zwischen 1951 und 1954 in Clairfontaine, in der Nähe von Rambouillet, 60 km von Paris entfernt.
Viele seine Schreiben und Artikel beweisen, dass die französische Politik besonders wichtig für ihn war. Seiner Meinung nach war die Verfassung der Fünften Französischen Republik, die nach der Rückkehr von Charles de Gaulle formuliert wurde, war eine der besten Verfassungen in dem damaligen Europa. Das französische System erwähnte er auch als Beispiel in seinem Artikel im Jahre 1990, anlässlich der feierlichen Sitzung des ersten freien Parlaments in Ungarn nach der Wende. [2]
Mit großem Interesse beobachtete Otto von Habsburg die Präsidentenwahlen, die das politische Leben Frankreichs grundsätzlich beeinflussten, bis ins hohe Alter. Vor zwanzig Jahren schrieb er mehrere Artikel im Thema. Im Jahre 2002 schienen der scheidende Präsident der Mitte-Rechts-Partei, Jacques Chirac und der scheidende sozialistische Ministerpräsident, Lionel Jospin die größte Chance zu haben. Mit 16,86% erhielt aber die Präsidentin der rechtsextremen Nationalen Versammlung, Jean-Marie Le Pen die zweitmeisten Stimmen bei der ersten Runde. Dieses unerwartete Ergebnis überraschte nicht nur Frankreich, sondern auch das ganze damalige Europa. Damit man die Machtergreifung von Jean-Marie Le Pen verhindert, gab es eine breite Zusammenarbeit: Die linken Wähler haben die weniger schlimmere Alternative gewählt und stimmten für Jacques Chirac. Der damals schon seit sieben Jahren amtierende Präsident wurde am 5. Mai 2002 mit einer Rekordzahl von 82,21 % der Stimmen wiedergewählt.
Dieses Ereignis beeinflusste die französischen innenpolitischen Prozesse der letzten zwanzig Jahren ziemlich stark. Fünf Jahre später schaffte Jean-Marie Le Pen nicht mal in die zweite Runde. Im Jahre 2011 übernahm seine Tochter, Marine Le Pen die Parteiführung von dem 83-jährigen Politiker. Sie hat auch für die Präsidentschaft kandidiert, aber schaffte im Jahre 2012 auch nicht in die zweite Runde. Im Jahre 2017, fünfzehn Jahre nach den historischen Wahlen im Jahre 2002, erhielt sie aber die zweitmeisten Stimmen in der ersten Runde mit 21,3%. Im Jahre 2022 war das Ergebnis das gleiche. Marine Le Pen gewann rekordverdächtige Unterstützung und setzte ihren Rivalen Emmanuel Macron stark unter Druck. Otto von Habsburgs vor zwanzig Jahren geschriebene Zeilen reimen sich gut auf zeitgenössische Ereignisse.
Vor der ersten Runde der damaligen Wahlen, in seinem Kommentar in der Voralberger Nachrichten aus 13-14. April 2002, zitierte Otto von Habsburg die Gedanken des Gründers der Paneuropa-Union, Richard Coudenhove-Kalergi:„Es ist sehr schwierig, Europa mit Frankreich aufzubauen. Aber ohne Frankreich ist es unmöglich.“ Er fügte hinzu: ,,Eins ist aber klar: die Frage der kommenden Wahlen [also 2002] ist, ob Frankreich bereit ist, wie in den de Gaulle-Zeiten, um der Motor der Europäischen Union zu werden, oder es kehrt zu den bürokratischen Konzeptionen zurück.“ [3]
Nach der zweiten Runde – auch in einer Analyse in der österreichischen Zeitung – äußerte sich Otto von Habsburg über die Erfolge der populistischen Politikerin folgenderweise: ,,Außer Le Pen haben alle ihre Anhänger verloren. Es ist nicht überraschend, da sie eine geborene oppositionelle Leiterin und eine ausgezeichnete Sprecherin ist, die laut gesagt hat, was die Menschen denken. […] Die Franzosen sind wütend auf ihre Politiker, weil sie so wenig in den letzten Zeiten getan haben. Das Land hatte früher große Persönlichkeiten, zu Beispiel der hervorragende Charles de Gaulle im 20. Jahrhundert. Seitdem gibt es nur kleinere Parteifunktionäre, die von den Menschen schon Anfang des zweiten Weltkriegs abgelehnt wurden. […]
Zum Frankreichs Glück ist Le Pen kein Hitler. Le Pen ist kein wildgewordenes Militärpferd, das im Krieg gute Leistung gebracht hat und dann erbittert darüber ist, was die Staats- und Regierungschefs der Welt mit seiner Heimat getan haben. […] Le Pens Auferstehung – weil es eigentlich sowas in der Art ist ¬–, die relativ spät in ihrem Leben erfolgte, beweist, dass man auch in dem öffentlichen Leben nicht über die Fehler der Anderen sprechen muss, sondern man muss sein eigenes Gewissen erforschen. Viele französische Politiker haben das Le Pen-Phänomen nicht in Betracht gezogen. Sie haben ihre Handlungen nicht in Erwägung gezogen und haben den Franzosen keine ehrlichen Antworten gegeben, die sie zu Recht verlangten. Sie haben gedacht, dass sie mithilfe spitzfindiger und kennerischer Berater die bittere Rechenschaftslegung vermeiden können. Es stellte sich aber heraus, dass es unmöglich ist.
So ist das Le Pen-Phänomen entstanden, das man mit lautem Jammer und mit Organisierung verschiedener Demonstrationen heute schon nicht bewältigen kann. Es wäre viel gesunder, wenn die französischen Politiker ihre Gewissen erforschen würden und bereit wären, die Schwachpunkte ihrer Tätigkeit zu erkennen. In der Praxis kann man nur sich selbst verbessern. Die Zukunft hängt also davon ab, ob wir dafür bereit sind – oder wir werden diejenige, die uns den Spiegel vorhalten, weiterhin dämonisieren und dadurch versuchen eine solche Situation zu schaffen, in der – wie die Geschichte zeigt – ein viel schlechteres Ergebnis entsteht, als wir jetzt befürchten.“[4]
Otto von Habsburgs Analyse vor zwanzig Jahren betrifft nicht nur Frankreich und die französische politische Elite. Sein Schreiben ermutigt auch die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – wie alle andere – ihre Gewissen manchmal zu erforschen: sie sollten nicht nur den Anderen die Schuld geben, sondern sie sollten selbst überlegen, was für richtige oder falsche Entscheidungen sie getroffen haben und dann daraus die Konsequenzen ziehen. Die Aussagen des am 24. April 2022 für weitere fünf Jahre zum französischen Präsidenten gewählten Emmanuel Macron weisen darauf hin, dass er die richtige Botschaft der Stimmgebung verstanden hat und seine Politik verändern wird. Ob seine Worte tatsächlich aus Gewissensforschung stammen, und ob er seinen Willen durchsetzen kann, ist nicht nur für die französische, sondern auch für die europäische Zukunft entscheidend.
Dies stellt sich aber nur in der Zukunft heraus.
Gergely Fejérdy
[1] Siehe die kurzen Artikel von 2020 und 2021, die auf der Homepage der Ott-von-Habsburg-Stiftung erschienen.
(Heruntergeladen am 25.04.2022)
[2] Időzített demokrácia. Magyar Nemzet, 1990. május 19., 3.
[3] Frankreich wählt. Voralberger Nachrichten, 13/14. April, 2002.
[4] Nach dem Le-Pen-Schreck. Voralberger Nachrichten, 18/19. Mai, 2002.