Am 26. Mai 2023 – einen Tag vor dem 100. Geburtstag des ehemaligen US-Außenministers –begrüßte Gergely Prőhle die Gäste und Zuhörer, die den Széchenyi Festsaal der Nationalen Universität für den öffentlichen Dienst füllten. Der Direktor unserer Stiftung erinnerte sich an seine Begegnungen mit dem Jubilar und beschrieb ihn als einen europäisch gebildeten, temperamentvollen Intellektuellen mit hervorragenden Geschichtskenntnissen, mit dessen Ideen Generationen von Politikern aufgewachsen sind und dessen Lageeinschätzung bis heute von der ganzen Welt beachtet wird. Kissinger hat die Kultur, in der er aufgewachsen ist, nie verleugnet. Als er 1973 die Gefahren für die transatlantischen Beziehungen erkannte, rief er das „Jahr Europas“ aus und wies darauf hin, wie wichtig es ist, die Einheit Europas zu stärken, ohne die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu gefährden.
Jérémie Gallon, Direktor der Europaabteilung der Beraterfirma McLarty Associates und Autor des 2021 erschienenen Buches mit dem Titel Henry Kissinger. L’Européen, konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die lehrhaften Momente im Lebensweg von Kissinger. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik war für Kissinger ein abschreckendes Beispiel für die Anfälligkeit der Demokratie. Er verbrachte seine Kindheit in Fürth, aber seine Familie musste deshalb nach einigen Jahren ihre Heimat verlassen. (Auch) daher wurde einer der Eckpfeiler seines späteren politischen Credos die Art und Weise des strategischen Denkens, die die demokratische Regierung vor dieser Gefahr schützen oder sie zumindest minimieren sollte. Mit diesem Problem befasste er sich bereits in seiner Diplomarbeit (über die Ansichten von Spengler, Kant und Toynbee) und dann in seiner Doktorarbeit, in der er das von Metternich etablierte, europäische Großmächtekonzert – das ein Jahrhundert lang den Frieden auf dem Kontinent garantierte – ausführlich darstellte. Als Politiker und Analyst setzte er sein theoretisches Wissen jahrzehntelang als Experte für US-Präsidenten in die Praxis um und diente damit den langfristigen Interessen seiner gewählten Heimat. Damals ging es darum, eine nukleare Konfrontation zu vermeiden. Laut Gallon war ein charakteristischstes Merkmal Kissingers, dass er immer „zweihäusig” bleiben konnte: Seine akademische und seine politische Karriere verstärkten sich gegenseitig, und er verfiel nicht in die Falle der Spezialisierung, sondern behielt die Fähigkeit zur Reflexion.
Ulrich Schlie, Professor am Lehrstuhl für Sicherheitspolitik und Strategieforschung an der Universität Bonn, nannte den ehemaligen Außenminister in seinem Vortrag (Henry Kissinger und Deutschland: 100 bewegte Jahre) einen Mann der Superlative: Niemand hat eine 4.000-seitige Zusammenfassung über seine eigene Amtszeit geschrieben; er hat sich am intensivsten mit Deutschland beschäftigt, und nur seine Arbeit ist mit dem Nobelpreis (1973) gewürdigt worden. Kissinger kannte die führenden Politiker der Nachkriegs-Bundesrepublik gut – er wurde unter anderem mit Helmut Schmidt, Franz Joseph Strauß und Ralf Dahrendorf fotografiert –, aber er interessierte sich auch leidenschaftlich für die Vergangenheit des Landes und der Nation: Unter den Gestaltern seiner historischen Vision plante er nach seinem Buch über Metternich auch über Bismarck zu schreiben, den Vater der Realpolitik des 19. Jahrhunderts. Abschließend zitierte Schlie Kissingers Worte für die heutige Zeit, laut deren die Propheten mehr Leid als Staatsmänner verursacht haben. Er denkt, dass die Führungsfiguren des Westens daher Fantasie, Hingabe und Visionen benötigen (würden), um das Schlimmste zu verhindern, das unserer Zeit droht.
Unser Kollege Bence Kocsev untersuchte die Beziehung zwischen den beiden Schlüsselfiguren des Kalten Krieges, Otto von Habsburg und Henry Kissinger, anhand eines Korpus von fast 200 Briefen, die sich in unserer Stiftung befinden. Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung zu behaupten, dass das Verstehen der internationalen politischen Geschichte der 1970er Jahre und das Kennenlernen und die Bewertung des intellektuellen Einflusses der beiden ohne eine gründliche Kenntnis ihres Networkings unmöglich ist. Ihre Karriere sind auch ein Beispiel dafür, wie soziales Kapital in politisches Kapital umgewandelt werden kann und wie der Homo Politicus und der Homo Intellectualis miteinander harmonisiert sein können – auch wenn dieses Privileg nur wenigen vergönnt ist.
János Csák war der erste Referent des Panels zur Bestimmung der geopolitischen Lage Chinas im 21. Jahrhundert. In seiner datenreichen Grundsatzrede sagte der ungarische Minister für Kultur und Innovation, dass der entscheidende Faktor für das Verständnis darin besteht, Einblick in das chinesische Selbstverständnis zu bekommen. Laut ihm sind die Identität, die Selbstbestimmung und die Handlungsfähigkeit die drei wichtigsten Faktoren, deren Prioritäten die Wirtschafts-, Militär- und Kulturpolitik des Landes bestimmen und die die noch immer lebendige, jahrtausendealte Tradition des Kollektivismus und Autoritarismus erklären. Das Ergebnis ist beeindruckend: China hat es in den letzten 40 Jahren geschafft, 80 % seiner Bevölkerung aus der extremen Armut zu befreien. Welche Herausforderungen diese Errungenschaft – und die Entwicklungsnotwendigkeit, sie aufrechtzuerhalten – auf regionaler und globaler Ebene aufwirft, und wie die Großmächte der Weltpolitik auf diese Herausforderung reagieren, ist wahrscheinlich das wichtigste Dilemma der kommenden Jahre.
Gergely Salát, Leiter des Lehrstuhls für Chinastudien an der Katholischen Péter-Pázmány-Universität, nahm Bezug auf den Anlass der Konferenz und lobte Kissinger dafür, dass er das Potenzial der Entwicklung Chinas zu einer Großmacht in den frühen 1970er Jahren erkannt hat. Die Ära der guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten endete mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens (1989). Seitdem ist die Außenpolitik der USA von einer verzweifelten Suche nach einem Modus Operandi geprägt. Am Ende dieses Prozesses – so Gergely Salát in Bezug auf sein kürzlich erschienenes Buch über China – ist auch die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts nicht auszuschließen.
Tamás Magyarics trug mit fünf bedenkenswerten Aussagen zum Bild der Ostmacht bei. Der ehemalige Botschafter und Amerika-Experte erinnerte daran, dass die chinesische Zivilisation einzigartig ist – ihre Werte, Weltanschauung und Institutionen lassen sich nicht in die westliche Welt integrieren. Er warnte auch vor der Gefahr falscher historischer Analogien, die nach bis in die Antike zurückreichenden Beispielen suchen würden, um die aktuelle Situation zu modellieren. Er betonte, dass es ein schwerer Fehler sei, das heutige China als kommunistischen Staat zu betrachten – das hat Kissinger bereits vor fünfzig Jahren differenzierter festgestellt. Ebenso falsch wäre es, wenn die USA zur Logik des Kalten Krieges gegen die Sowjets zurückkehren würden –diese „Version 2.0“ wäre das schlechtmöglichste Szenario (mit unvorhersehbaren Folgen), das es gibt. Schließlich wiederholte er die Worte des Jubilars, der stets die Rolle einer kontinuierlichen Interaktion zwischen den Großmächten als Mittel zur Konfliktbewältigung betont hat. Magyarics stellte fest, dass die beiden letzten Präsidenten der Vereinigten Staaten leider nicht nach diesen Grundsätzen politisiert haben.
Géza Jeszenszky erinnerte an den gemeinsamen Weg Ungarns und der NATO nach der Wende, an dem er als Außenminister der Antall- Regierung und um die Jahrtausendwende als Botschafter in Washington aktiv beteiligt war. Unter Bezugnahme auf Kissinger sagte er, dass die Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges höchstwahrscheinlich zu einem Gebietsverlust der Ukraine – mit dem erzwungenen Verzicht der Krim – führen wird; es wäre jedoch notwendig, die Lage der umstrittenen Regionen durch nationale Selbstbestimmung (durch ein Referendum?) im Rahmen eines umfassenden Abkommens über den Schutz von Minderheiten zu regeln.
Janne Haaland Matlary, ehemalige Staatssekretärin im Außenministerium der norwegischen Regierung, hat ebenfalls eine klare Haltung zu diesem Thema eingenommen. Die Professorin der Universität Oslo – die von ihrem ungarischen Ehemann begleitet wurde – hält das Vorgehen der russischen Seite für ein Paradebeispiel für Aggression, das gegen alle bestehenden internationalen Rechtsformeln verstößt. In Anbetracht der Auswirkungen des Konflikts auf die globale Neuordnung der Machtverhältnisse hält es die Referentin für äußerst schwierig zu definieren, was ein Erfolg in der aktuellen Situation bedeuten würde – nicht nur für die kriegführenden Parteien, sondern auch für die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und China. Auch die NATO-Osterweiterung soll überdacht werden. Laut ihr wäre der richtige Ansatz: „zu verteidigen, aber zurückzutreten“.
Putins revisionistische Absichten sind nicht neu; sie lassen sich sogar bis zur Auflösung der Sowjetunion zurückverfolgen, auch wenn der russische Staatschef erst 2022 der Meinung war, dass die Kombination einer günstigen diplomatischen Konstellation und der technischen Entwicklung des Militärs zum Erfolg führen könnte. Emil Brix, Direktor der Diplomatischen Akademie Wien, gab zu, dass er das Ziel des russischen Präsidenten, einen Krieg gegen den Westen zu führen – wobei er nach einem bewährten Rezept mit Ideologie und Geschichtsfälschung vermischt –, nicht verstanden hat. Der ehemalige österreichische Botschafter in Moskau glaubt, dass der bewaffnete Konflikt ein Ersatz für eine fehlende nationale Identität ist. Putin weigert sich, die Großmachtrolle des „Koloss des Ostens“ aufzugeben, die seit 1815 einen bedeutenden Faktor im Leben des Kontinents darstellt – hierin folgt er der Logik Kissingers – und arbeitet langfristig auf die Schaffung einer multipolaren Weltordnung hin.
Der letzte Referent auf der Konferenz war ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Heritage Foundation. Anthony B. Kim sprach über den wachsenden Einfluss Chinas in der Welt, der während Kissingers außenpolitischem Paradigmenwechsel und der Kontaktaufnahme mit den USA angefangen hat. Im Nachhinein gab er zu, dass die Öffnung nach Osten vor fünfzig Jahren ein Fehler war. Mit Blick auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine stellte er fest, dass dieser eindeutig den Beginn einer neuen Ära markiert; einerseits ist es zu begrüßen, dass die Reaktion auf die Bedrohung die transatlantischen Beziehungen gestärkt hat, sie kann jedoch nicht mit einer dauerhaften Quarantäne Russlands (WTO, internationale Organisationen, Wirtschaftssanktionen) einhergehen, wenn man Kissingers Prinzipien folgt. Sie kann auch den positiven Effekt haben, dass sie im Laufe der Zeit eine „Rekonfiguration“ des Aggressors auslöst.
Durch die Interaktion der Fragen, die von den Experten in jeder Podiumsdiskussion gestellt und beantwortet wurden, konnte auch das Publikum an der Feier teilnehmen.
Fotos von Dénes Szilágyi