Vor vollbesetzten Sitzreihen begrüßte Gergely Prőhle, der Kuratoriumsvorsitzende der Trägerstiftung der Andrássy-Universität, das Publikum und die Referenten im Spiegelsaal der deutschsprachigen Universität. Der ehemalige Botschafter Ungarns in Berlin erinnerte an die Absicht, die hinter den von ihm angeregten Bänden über die ungarisch-deutschen diplomatischen Beziehungen („Chronik der Neuanfänge 1867-2001“ sowie „Neubeginn und Kontinuität, 2002“) stand, und verwies auf die Aktualität dieser Begriffe in Verbindung mit der Konferenz. Hintergedanken des Élysée-Vertrags ins Gedächtnis rufen Prőhle betonte in diesem Kontext, der vor sechzig Jahren zwischen Frankreich und Deutschland geschlossene Élysée-Vertrag handelte im Grunde von nichts anderem, als von der Einsicht in die Notwendigkeit, dass sich beide Seiten regelmäßig miteinander austauschen sollten. Nachdem die eigentlich im Dezember anstehende diesjährige Sitzung des Ungarisch-Deutschen Forums verschoben wurde, sollte man sich den Hintergedanken der französisch-deutschen Versöhnungspraxis ins Gedächtnis rufen – genau wie es die Organisatoren dieser Konferenz taten. Der Kuratoriumsvorsitzende unterstrich, dass es im Verlauf von eintausend Jahren im Verhältnis Deutschlands zu Ungarn zu jeder Zeit einen Dialog gab, oder wenigstens Reflexionen auf die Taten der jeweils anderen Seite. Das dürfe aus dem Instrumentarium der Diplomatie zwischen beiden Ländern auch heute nicht verloren gehen, selbst wenn gerade eine kühle Distanz in den politischen Beziehungen wahrzunehmen ist.
Einmalige Gelegenheit für die Minderheit „Die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bande dieser beiden Völker sind viel tiefer, als dass diese durch vorübergehende Perioden wie die heutige zerrissen werden könnten“, meinte der das Ministerpräsidentenamt leitende Minister Gergely Gulyás. Er erinnerte daran, dass Ungarn als Zielgebiet für deutsche Investoren seit mehr als drei Jahrzehnten unverändert Priorität genießt. Ein Viertel des ungarischen Außenhandelsvolumens wird auch heute in der Relation mit Deutschland realisiert. Kontaktanbahnungen erleichtert, dass in Ungarn – trotz der Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg – bis heute eine auch zahlenmäßig bedeutende deutsche nationale Minderheit lebt. Die Angehörigen dieser Minderheit haben die auch im internationalen Vergleich einmalige Gelegenheit, in Ungarn alle Schulen des Lebens vom Kindergartenalter an über die Mittelund Hochschulen bis zur Erlangung des Doktortitels in ihrer Muttersprache zu durchlaufen und die entsprechenden Abschlüsse zu machen. Dafür schuf der unmittelbar nach der Wende zwischen Ministerpräsident József Antall und dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl unterzeichnete Freundschaftsvertrag die Rahmenbedingungen. Selbst wenn sich das Ungarn-Bild insbesondere auf dem Gebiet der Politik in den letzten Jahren etwas eingetrübt hat, sei dies zu einem nicht eben geringen Teil der Einflussnahme durch befangene Medien zuzuschreiben, meinte Gulyás, um sogleich hinzuzufügen, dass die Mehrheit der Deutschen laut Meinungsumfragen auch weiterhin große Sympathie für Ungarn zeigt. Deshalb sieht der Minister auch keinen Grund zur Beunruhigung: Das Aufrechterhalten des Dialogs und die positiven Beispiele aus vielen Jahrhunderten sollten helfen, diesen schwierigen Zeitabschnitt zu überwinden.
„Deutsche und Ungarn sind Nachbarn ohne gemeinsame Grenze“, rief die frühere deutsche Staatsministerin Ursula Seiler-Albring ein geflügeltes Wort in Erinnerung. Die einstige Botschafterin der Bundesrepublik in Budapest hob in ihrem Vortrag jene positiven Eigenschaften hervor, die sich über die Jahrhunderte des friedlichen Zusammenlebens in das kollektive Gedächtnis der beiden Völker eingebrannt haben. Dann aber warnte sie, positive Bewertungen gingen auch mit Verantwortung einher. Denn jede Generation müsse sich aufs Neue dafür engagieren, damit Sympathiewerte, die sich aus übereinstimmenden Interessen und Zielen vergangener Jahre, aus ähnlichen Anschauungen oder Nostalgie speisen, auch in der Gegenwart und erst recht in der Zukunft eine Motivationskraft darstellen können. „Eine Sache aber darf es ganz sicher nicht zwischen zwei Nachbarn geben“, schlug sie den Bogen zu ihrer eingangs geäußerten Metapher, „nämlich den Dialog über unsere gemeinsamen Angelegenheiten zu beenden.“
Ungarns Botschafter in Berlin, Péter Györkös, zeichnete eine kurze Kulturtopographie der deutsch-ungarischen Beziehungen, um dann auf die neuralgischen Streitpunkte der Gegenwart einzugehen: Medienfreiheit, Demokratie, Politikbegrifflichkeiten (Liberalismus vs. Illiberalismus, Populismus, Rechtsstaatlichkeit). Ebenso erwähnte er in diesem Zusammenhang die zunehmend tiefere Widersprüche generierenden – ja geradezu antagonistische Züge annehmenden – Debatten über die Migrationspolitik. Der Diplomat zeigte sich überzeugt, dass sich die bestehende Situation bis zu den Europawahlen im kommenden Jahr weder in Ungarn noch in Deutschland entscheidend verändern wird (genauso wenig wie in anderen EU-Mitgliedstaaten), weshalb die politische Agenda erst in Kenntnis der Wahlergebnisse neu formuliert werden kann. Dieses zeitliche Zusammentreffen mit der Ratspräsidentschaft, die Ungarn im zweiten Halbjahr 2024 übernimmt, verschaffe dieser eine riesige Bedeutung für das Land. Doch wie auch immer sich die Zukunft gestaltet, sollten jene, denen das Schicksal des alten Kontinents am Herzen liegt, nie die Worte Konrad Adenauers vergessen: „Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.“
Deutschlands Botschafterin in Budapest thematisierte die gemeinsamen Aufgaben und die Probleme, die durch ein geschlossenes Auftreten gelöst werden können – davon gebe es in den deutsch-ungarischen Beziehungen zur Genüge. Neben den bilateralen Beziehungen sei auch die Rolle der Netzwerke und Bündnisse nicht zu unterschätzen, meinte Julia Gross. Das gelte etwa für eine zwingende Neupositionierung Europas im russisch-ukrainischen Krieg oder im neuerlich aufflammenden Nahostkonflikt. Was die Prinzipien angehe, bestehen in der Politik der beiden Länder überwiegend Sympathien. Deshalb brachte die Botschafterin ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass in Zukunft neben dem unmittelbar an die öffentliche Meinung gewandten Politisieren oder besser noch an dessen Stelle wieder die Diplomatie den ihr traditionell gebührenden Rang bei der Vertiefung der Beziehungen zwischen den Nationen erlangen kann.
Im historischen Block der Konferenz ging zunächst der Geschichtswissenschaftler und Diplomat Ádám Masát auf die Meilensteine der Jahrzehnte zwischen 1973 und 2023 aus ungarischer Sicht ein. Die von ihm in zehn Zeitabschnitte unterteilten Ereignisse begannen nach seiner Sichtweise mit der Verkündung der Ostpolitik des Sozialdemokraten Willy Brandt und der Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, was den Weg für Verhandlungen mit weiteren Staaten Mittelosteuropas freimachte. Ein greifbares Ergebnis war die Unterzeichnung einer Vorvereinbarung für die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Ungarn und Deutschland am 13. Dezember 1973. Das Originalexemplar dieses Protokolls zeigte dem Publikum dann bereits der Lehrstuhlleiter an der Andrássy-Universität, Prof. Heinrich Kreft. Begleitet von einem maschinegeschriebenen Bericht der ostdeutschen Staatssicherheit, den diese über das diplomatische Ereignis erstellt hatte. Die beiden Wissenschaftler leiteten aus ihren Vorträgen den Schluss ab, dass die Zusammenarbeit der beiden Länder ungeachtet der politischen Gegensätze noch immer enormes Potenzial bereithält, das unbedingt ausgeschöpft werden sollte.
„Politik braucht Visionen”, zitierte István Hiller Worte von Bruno Kreisky, mit denen er die Diskussion im Panel „50 Jahre – Politische und wirtschaftliche Wechselwirkungen“ einleitete. Der Historiker und Politiker sinnierte über die geschichtsformende Rolle der Persönlichkeit, die angefangen mit den 1960er und 1970er Jahren infolge der revolutionären Einflussnahme durch die Massenmedien einem radikalen Wandel unterlag: Die Akteure des öffentlichen Lebens „zogen“ in den Alltag der Menschen ein, ihr Einfluss wuchs ins Unermessliche. Für die heutigen Generationen könnten die großen Persönlichkeiten jener Zeit als Vorbilder dienen, weil sie sich talentiert und engagiert für die von ihnen erträumten Visionen stark gemacht hatten. Man sollte sich den deutsch-ungarischen Beziehungen ebenfalls mit dieser Konsequenz und aus dem Kontext einer langfristigen strategischen Denkweise annähern, dabei jedoch alle positiven Erträge der bestehenden Verflechtungen bewahren, riet der ehemalige Bildungs- und Kulturminister.
Die Teilnehmer des Rundtischgesprächs am Vormittag behandelten zunächst Hintergründe der Diplomatie in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Der frühere Außenminister und EU-Kommissar Péter Balázs hob das spätestens seit 1987 vorhandene Streben der ungarischen Gesetzgebung hervor, in den heimischen Standards Kompatibilität zu den EU-Richtlinien zu erreichen. Der Bundestagsabgeordnete Knut Abraham erinnerte an die Tätigkeit, die Otto von Habsburg im Europäischen Parlament für „sein“ Ungarn entfaltete. Der frühere Geschäftsführer der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer, Jürgen Illing, und Moderator Gergely Prőhle rückten derweil die Persönlichkeit eines Otto Graf von Lambsdorff in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Der Graf verfolgte eine überaus bewusste Mitteleuropapolitik; seine Vorschläge zur Gestaltung des Wirtschaftslebens haben tiefe Spuren in den Prozessen hinterlassen, die Ungarn und andere Länder der Region zur Zeit der Systemwende prägten.
Beim Diskurs gesellschaftspolitischer Fragen wurde wiederholt in die Debatte eingeworfen, man sollte gut dreißig Jahre nach der Wende den Gedankengang wagen, wie sich die in der Euphorie der Wendezeit ersonnene Zukunft zur heutigen Lage in den betroffenen Ländern verhält, die unter dem Druck der Realitäten entstand. Das könnte helfen, die Auseinandersetzungen in den Foren der großen Politiker besser zu verstehen, meinte der Direktor des Nézőpont-Instituts, Ágoston Sámuel Mráz, um dann die Standpunkte der Anhänger von Subsidiarität und Zentralisierung, die Differenzen zwischen den Akteuren von Wirtschaft und Politik sowie die Ge- schichte des Aufstiegs der Populisten als Beispiele anzuführen.
Im Anschluss an das Mittagessen beantworteten die Leiter der die Konferenz auf die Beine stellenden ungarisch-deutschen Institutionen Fragen, die der Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, Bence Bauer, aufwarf. Erzsébet Knáb – die aus einer leitenden Position bei einem deutschen Unternehmen der Automobilindustrie zum Deutsch-Ungarischen Jugendwerk stieß – möchte die heranwachsende Generation darin unterstützen, sich ein verantwortungsbewusstes, lösungsorientiertes Denken anzueignen und in einer Welt voll von Missverständnissen und Fehlinterpretationen einen Konsens anzustreben. Der Rektor der Andrássy-Universität, Zoltán Pállinger, interpretierte die Worte „Europa gestalten” auf dem neuen Logo der Institution. Demnach sei nun die Zeit für die Universität gekommen, die schon so viele Europa-Experten ausbilden konnte, dass ihre einstigen Studenten, ausgestattet mit den hier erworbenen Fähigkeiten und der Kultur dieser einzigartigen Hochschule, die Zukunft des Kontinents auch tatsächlich aktiv mitgestalten. Diesen Auftrag erteilte er seinen aktuell rund 200 Studen- ten aus 16 Ländern. Dem konnte István Mustó nur beipflichten. Der Ökonom, der einst den spanischen EU-Beitritt als deutscher Experte begleitete, hält es für machbar, eine politische Wende binnen zwei oder drei Jahren, eine wirtschaftliche Wende in fünf bis fünfzehn Jahren zu bewältigen. Die wichtigste Wende jedoch, bei der es um einen Mentalitätsbruch der Betroffenen geht, lasse sich nur über den Zeitraum von Generationen bewerkstelligen.
Als krönender Abschluss der Konferenz wurde eine für das Jubiläum angefertigte Gedenkmünze vorgestellt, aufgelegt von der Ungarischen Nationalbank – das Edelmetall von 10 cm Durchmesser entwarf Zoltán Endrődy.
Text von Ferenc Vasbányai.
Aus dem Ungarischen übertragen von Rainer Ackermann.
Fotos von János Pelikán / Képszerk / AUB.