Der bei uns fast unbekannte österreichische Philosoph ist eine unumgängliche Figur des europäischen konservativen Denkens. Er wurde in Wien in einer jüdischen Familie von Textilkaufleuten geboren. Ende Februar 1939 emigrierte er mit seinen Verwandten über Prag und Amsterdam nach Südamerika. Als Student an der Escuela Normal Superior in Bogota konzentrierte er sich auf Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und die lateinische Sprache. Sein Studium absolvierte er in den Vereinigten Staaten als Stipendiat am Southern College in Birmingham, Alabama. An der von Jesuiten geführten Universität von Kolumbien promovierte er 1949 in Literatur und Philosophie.
Nach seiner Rückkehr in sein Heimatland studierte er klassische Philologie und Geschichte an den Universitäten Wien und Innsbruck und promovierte 1953 in Philosophie an der Universität Innsbruck. Danach begann er als Dozent an der Universität Salzburg zu arbeiten. Seine zwei Jahrzehnte lange Lehrtätigkeit wurde – nach einer längeren Tätigkeit als Berater einer amerikanischen Bank – 1986 mit der Ernennung zum Professor für Römisches Recht gekrönt.
Thomas Chaimowicz (Bogotá, 1949)
Sein Name taucht in der Materialsammlung der Otto-von-Habsburg-Stiftung ab 1958 in der Grazer monarchistischen Publikation „Die Krone“ auf, die den ehemaligen Thronfolger unterstützte. Die Themen seiner kurzen Aufsätze beschäftigen sich den klassischen politisch-philosophischen Themen: Macht, (Rechts-)Staat, Freiheit, Tradition, Geschichte, Moderne und Revolution – oft auf derselben Seite wie die außenpolitischen Artikel Ottos, die sich hinter dem Pseudonym Diplomaticus verbergen.
Die Krone_1959 március 1.
Ihr umfangreicher Briefwechsel zeugt von ihrer Freundschaft. Unsere Stiftung berwahrt ein Korpus von fast 1800 Seiten Korrespondenz zwischen 1958 und 2000, die von ihrer intensiven intellektuellen Beziehung zeugen (manchmal schickten sie sich mehrere Briefe an einem Tag!). Otto von Habsburg und Thomas Chaimowicz teilten ähnliche Ansichten über das Funktionieren der Weltpolitik, die Geschichte und die Zukunft der westlichen Zivilisation und insbesondere über Europa. Ihr gegenseitiges Vertrauen spiegelt sich in der Tatsache wider, dass der Philosoph mehrere Jahre lang an der Erziehung von Ottos Kindern beteiligt war.[1]
Die Edmund-Burke-Gesellschaft wurde 1960 auf Initiative von Chaimowicz in Salzburg gegründet. Ziel der Gesellschaft war es, die Schriften des als „Vater des Konservatismus“ bekannten britischen Politikers zu erforschen und seine Ideen zu fördern. Zwischen 1960 und 1969 arbeitete er als Redakteur der in Wien erscheinende Zeitschrift der Gesellschaft, die Österreichischen Akademischen Blätter, die von prominenten Persönlichkeiten aus Europa und Übersee wie Wilhelm Böhm, Friedrich Engel-Janosi, Friedrich A. von Hayek, Willy Lorenz, Ludwig von Mises und Peter Stanlis herausgegeben wurde. Er und Russell Kirk wurden enge Freunde. Darüber hinaus schrieb Chaimowicz in den 1970er Jahren häufig für die Zeitbühne, eine Zeitschrift, die durch tausend Verbindungen mit Otto verbunden war.
Das Ehepaar Chaimowicz in Begleitung von Russell Kirk (New York, 1964)
Das 1985 erschienene Hauptwerk, Freiheit und Gleichgewicht im Denken Montesquieus und Burkes. Ein analytischer Beitrag zur Geschichte der Lehre vom Staat im 18. Jahrhundert [2] basiert auf der Prämisse, dass die Kenntnis der intellektuellen Errungenschaften der Vergangenheit – in unserem Fall der Antike – für das Verständnis der Gegenwart unerlässlich ist. Chaimowicz untersucht den Einfluss der Ideen der antiken Autoritäten in den Werken von Montesquieu und Burke, wobei er sich besonders auf das Verhältnis von Gleichgewicht und Freiheit konzentriert. Ohne Gleichgewicht, so argumentiert er, kann die Freiheit der menschlichen Gemeinschaft nicht existieren – oder ist zumindest beeinträchtigt – und kann nur durch etablierte Traditionen garantiert und gefördert werden. Burke führte diesen Gedanken weiter, als er sich gegen die abstrakten Begriffe der Französischen Revolution aussprach, die die Tradition und damit das Gleichgewicht bedrohten. Chaimowicz führt die Quelle von Montesquieus Ideen auf Tacitus und Plinius den Jüngeren zurück. Das Konzept der Gewaltenteilung und der gemischten Regierung wurde von dem französischen Autor (auch) in seinem kleineren Werk Betrachtungen über die Ursachen der Grösse und des Verfalls der Römer erörtert, das in Chaimowiczs Buch ausführlich analysiert wurde. Nur einen Schritt von Montesquieu entfernt ist Burke, der die Ansichten seines französischen aristokratischen Zeitgenossen in seine Argumentation über die Risiken der Revolution einbezog. Kirk schrieb das Vorwort für die englische Ausgabe des Bandes [3].
Der österreichische Denker fasste sein Lebenswerk kurz vor seinem Tod im Jahr 2002 in einer Salzburger Publikation zusammen [4]. Sein wissenschaftlicher Werdegang, seine Rolle bei der Gestaltung des kontinentalen Konservatismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt seine Beziehung zu Otto von Habsburg und die von ihm geschaffenen formellen und informellen Netzwerke – bieten eine Fülle interessanter Erkenntnisse für die künftige Forschung.
Thomas Chaimowitz‘ Schriften in den Zeitschriften
Die Krone (1953–1967),
Österreichische Akademische Blätter (1960–1969),
und Zeitbühne (1972–1979).
(Der im ersten Bild gezeigte Brief an Otto von Habsburg trägt die Bezeichnung HOAL I-2-b-Thomas Chaimowicz, 12. November 1961; die Fotos des Philosophen stammen aus dem Anhang des in der Fußnote zitierten autobiografischen Essays).
[1] Kirk, Russel: The Sword of Imagination. Memoirs of a Half-Century Literary Conflict. William B. Eerdmans Publishing Co., Grand Rapids, MI, 1995, 208.
[2] Springer Verlag, Wien–New York, 1985 (Forschungen aus Staat und Recht, 68.)
[3] Antiquity as the Source of Modernity. Freedom and Balance in the Thought of Montesquieu and Burke. Transaction, Somerset, NJ, 2008.
[4] Chaimowicz, Thomas: Heimkehr aus dem Exil. Salzburg. Geschichte & Politik, 2000, 4, 253–345.