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Ein banales Ereignis aus 1922

Das aus der Sicht der Dokumente oder der Beamten nur ein banales administratives Ereignis zu sein scheint, kann doch menschliche Schicksaale beeinflussen. Unser Kollege, István Gergely Szűts, stellt uns eine solche alltägliche Sachbearbeitung vor, die in diesem Fall einen nicht alltäglichen Mann betraf.

Ein banales Ereignis aus 1922

Das aus der Sicht der Dokumente oder der Beamten nur ein banales administratives Ereignis zu sein scheint, kann doch menschliche Schicksaale beeinflussen. Unser Kollege, István Gergely Szűts, stellt uns eine solche alltägliche Sachbearbeitung vor, die in diesem Fall einen nicht alltäglichen Mann betraf.

Am 13. Juni 1922 früh Nachmittag war der erste Kunde der Ungarischen Konsulat in Berlin ein 22-jähriger Universitätsstudent. Er wendete sich an dem Konsulat bezüglich seiner Staatsangehörigkeit, und nahm alle Dokumente mit sich, die zur Verfügung standen. Nach kurzer Wartezeit empfing ihn ein für amtliche Angelegenheiten verantwortlicher Offizier, dann führte ihn zu einem Büro am ersten Stock, in dem er seine Dateien in das Protokoll über die optierenden Personen eintrug. Sándor Grossschmid, der aus Kaschau kam und zu diesem Zeitpunkt schon sein drei Jahren in Deutschland lebte, wurde im Sinne der Entscheidungen von Trianon zum tschechoslowakischen Staatsbürger. Aber laut dem Friedensvertrag hatte er die Möglichkeit, innerhalb eines Jahres nach dem 26. Juni 1921, über die Beibehaltung seiner ungarischen Staatsangehörigkeit in einem der ungarischen Ämter oder in einer Auslandsvertretung zu äußern. Das Optieren, also die Beibehaltung der ungarischen Staatsangehörigkeit, verpflichtete ihn aber seinen ehemaligen Wohnort, im Falle von Grosschmid Kaschau – eigentlich schon die Tschechoslowakei – zu verlassen. Der junge Mann lebte zu diesem Zeitpunkt schon seit mehreren Jahren weit weg von ihrer Geburtsstadt, die mit seiner Familie jenseits der Grenze geriet. Er musste also offiziell entscheiden, ob Kaschau, zu diesem Zeitpunkt schon Košice, oder Budapest?

Während des im Friedensvertrag festgelegten Jahres beantragten mehrere hunderttausend – meistens aus den Nachfolgestaaten fliehende oder umgezogene – Personen die Beibehaltung ihrer ungarischen Staatsangehörigkeit. Außer ihnen realisierten noch mehrere Zehntausende in anderen europäischen Ländern oder in den USA, dass sie ohne ihre Zustimmung zum Staatsbürger eines anderen Landes wurden, und was bis dahin normal war, sollte jetzt mit offiziellen Dokumenten beantragt werden.

Im Jahre 1922 in Berlin beantragten 91 Personen die Beibehaltung ihrer Staatsangehörigkeit. Obwohl in dem gegebenen Zeitraum wurden wahrscheinlich mehrere tausend Anträge gestellt, nur die Dateien aus Juni sind bekannt. Die optierenden Personen in Berlin waren meistens solche Personen, die aus irgendeinem abgetrennten Teil kamen, aber schon dauernd in einer bei Ungarn bleibenden Siedlung und/oder in der deutschen Hauptstadt lebten.

Grosschmid wendete sich an dem Konsulat in der Bülowstrasse kaum zwei Wochen vor dem Ablauf der Frist, mit seiner Geburtsurkunde, mit seinem Taufschein und seiner Adressenkarte. Als sein Aufenthaltsort gab er das Miethaus unter der Adresse Xantanerstrasse 12. an, im Bezirk Wilmersdorf, nur eine halbe Stunde zu Fuß von dem Konsulat entfernt. Daneben teilte er seine Religion und seinen Familienstand mit, dann verabschiedete sich von dem Botschaftssekretär. Als er das Gebäude verließ, hätte er eigentlich einer neuen optierenden Person begegnen können, die ihm im Protokoll folgte, der 58-jähriges István Kutenics, der Eisendrechsler aus Neukölln.

Das Konsulat nahm Grosschmids Antrag zwei Tage später an, Kutenics musste aber neben seinem Taufschein seine Adressenkarte ersatzweise vorweisen, um seine Prozedur zu starten können. Deshalb wurde an diesem Tag nur den Antrag des Universitätsstudents an das Ungarische Innenministerium weitergeleitet.

Grosschmid, bald als Sándor Márai, blieb natürlich ungarischer Staatsbürger. Aber ein Jahr später, schon als verheirateter Mann, verließ er das für ihn immer fremde Berlin. Was mit dem Antrag von Kutenics, der Eisendrechsler, passierte, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass er dann ab 1927 in einem Werk in Roubaix arbeitete, auch weit weg von Berlin.

István Gergely Szűts

Der Originaltext ist auf dieser Webseite verfügbar.