Nachrichten


Henry A. Kissinger, 1923–2023

Henry Alfred Kissinger, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister der USA, der die US-Außenpolitik während des Kalten Krieges entscheidend mitgestaltet hat, ist im Alter von 100 Jahren verstorben.

Henry A. Kissinger, 1923–2023

Henry Alfred Kissinger, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister der USA, der die US-Außenpolitik während des Kalten Krieges entscheidend mitgestaltet hat, ist im Alter von 100 Jahren verstorben.

Im Archiv unserer Stiftung sind die schriftlichen Zeugnisse der mehr als sechs Jahrzehnte langen Bekanntschaft Otto von Habsburgs mit dem amerikanischen Politiker aufbewahrt. Im Mai 2023 haben wir sein Lebenswerk mit einer Konferenz gewürdigt, auf der wir seine Beziehung zu unserem Namensgeber detaillierter vorgestellt haben. Der folgende Artikel gibt einen Auszug aus ihren zahlreichen Interaktionen wieder.

,,Seine Ansichten sind immer sehr nützlich.”

Trotz seines Pragmatismus und seines charakteristischen Realismus unterschieden sich die politischen Überzeugungen Otto von Habsburgs in vielerlei Hinsicht von denen Kissingers; dennoch teilten die beiden Politiker in vielen kritischen Fragen ähnliche Ansichten und diskutierten trotz ihrer potenziellen Differenzen gerne über die wichtigsten Fragen der Weltpolitik. Der ehemalige Thronfolger verstand, dass der amerikanische Diplomat ein feines Gespür für die Transformationsprozesse und -bewegungen hatte, die die globale politische Architektur für die nächsten Jahrzehnte prägen könnten. Gleichzeitig war Kissinger von den historischen Erfahrungen und Visionen Otto von Habsburgs inspiriert.

Henry Kissingers Antwort auf Otto von Habsburgs Glückwunschschreiben, ergänzt um handschriftliche Zeilen anlässlich ihres Treffens bei der Beerdigung von Franz Josef Strauß.

 

 

Ihr mehr als vierhundert Seiten umfassender Briefwechsel ist ein fesselndes Zeugnis eines Denkens, das die Spannungen zwischen wert- und zielorientiertem politischem Handeln aufzeigt und gleichzeitig nach Möglichkeiten sucht, beides miteinander zu vereinbaren. Es ist nicht nur eine nützliche Quelle für das Verständnis des Wesens, der Dynamik und der Komplexität des globalen Kalten Krieges und der Weltordnung, die in der Zeit danach entstanden ist, sondern möglicherweise auch eine wertvolle Anregung für das politische Denken und Handeln der Gegenwart.

,,Sie gehören zu den wenigen Menschen im öffentlichen Leben, die die Geschichte nicht nur lesen, sondern auch verstehen. Daraus ergibt sich Ihr klarer Blick in die Zukunft.”

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten behielt der aus Fürth geflohene Kissinger den europäischen Charakter seiner Mentalität für den Rest seines Lebens bei, und eine der einflussreichsten Quellen seines außenpolitischen Ansatzes findet sich in der klassischen europäischen Diplomatie des 19. Jahrhunderts. Während seiner gesamten Laufbahn waren sein Denken und sein politisches Handeln von der Nachkriegsordnung und dem Genie der Persönlichkeiten, die sie prägten, inspiriert. Am Beispiel Metternichs erkannte er, dass das Kraftgleichgewicht zwischen den Großmächten die unabdingbare Voraussetzung für die Aufrechterhaltung einer dauerhaften und stabilen internationalen Ordnung war, und er versuchte später, diese historische Erfahrung als Entscheidungsträger zu berücksichtigen. Obwohl sich Otto von Habsburg damit im Klaren war, dass die Politik des Kraftgleichgewicht im Kontext des Kalten Krieges keine Wahl, sondern eine Notlösung war, war er nicht mit allen ihren Erscheinungsformen einverstanden. Während er die Öffnung gegenüber China enthusiastisch unterstützte, wandte er sich vehement gegen die Entspannungsbemühungen des Kalten Krieges, insbesondere gegen die Ostpolitik der Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt, die guten Beziehungen zu Kissinger unterhielten. Die Vorstellungen des US-Politikers zur Gestaltung (und vor allem zur Verbesserung) der transatlantischen Beziehungen unterstützte er jedoch von Anfang an.

,,…wir sind stolz darauf, dass er vom Alten Kontinent stammt…”

Anhand der von unserer Stiftung aufbewahrten archivalischen Quellen wird deutlich, dass Otto von Habsburg seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine bedeutende Rolle bei dem Aufbau zahlreicher, sich oft überschneidender transnationaler konservativer Netzwerke spielte. Ihr wichtigstes Ziel war es, den Kommunismus zurückzudrängen, aber sie haben sich auch für Unterstützung der europäischen Zusammenarbeit und gleichzeitig für Verstärkung der transatlantischen Beziehungen engagiert. Aus der Korrespondenz geht nicht viel über das erste Treffen zwischen dem ehemaligen Thronfolger und Kissinger hervor, obwohl es wahrscheinlich auf einer Veranstaltung dieser Organisationen stattgefunden hat, da der künftige Diplomat, der damals noch in Harvard lehrte, auf besondere Weise mit diesen politischen Gruppen in Verbindung stand.

Die Politik von Kissinger brachte zwar eine andere Qualität in das konservative Denken der sechziger Jahre in Europa, da sie auf einem pragmatischen und unprätentiösen Ansatz beruhte, aber die Bemühungen des Politikers, die gemeinsamen Interessen des ,,Westens” zu verteidigen und die notwendige Zusammenarbeit zu erleichtern, beeindruckten zweifellos die Teilnehmer, einschließlich Otto von Habsburg. Als Außenminister hat Kissinger seine europäischen Wurzeln nicht vergessen, wie die von ihm vor genau 50 Jahren ins Leben gerufene Initiative zum Jahr Europas beweist. Aus seinem Entwurf, der von der New York Times vollständig veröffentlicht wurde, geht hervor, dass Kissinger wusste, dass die zentrale Frage in den transatlantischen Beziehungen das Gleichgewicht zwischen Integration und Autonomie war und dass die größte Herausforderung daher darin bestand, wie viel Vereinheitlichung dieses Beziehungssystem wollte und wie viel Vielfalt es tolerieren konnte.

***

Kissingers Ansichten über die Entwicklung und das Potenzial der transatlantischen Beziehungen sind nach wie vor beachtenswert, und sein außenpolitisches Konzept –insbesondere im Lichte des Krieges zwischen Russland und der Ukraine und der Besorgnis der USA und Europas im Zusammenhang mit China –, ist immer noch eine interessante Lektion, aus der man lernen kann. Gleichzeitig hat es in der modernen Diplomatie nur wenige so kontroverse Persönlichkeiten gegeben, als der amerikanische Diplomat. Seine Kritiker beschreiben ihn als zynischen Realpolitiker, dessen Entscheidungen zum Tod Tausender Menschen und zu zahlreichen Machtmissbräuche führten. Seine Bewunderer hingegen sagen, er sei ein pragmatischer Entscheidungsträger gewesen, der die Vereinigten Staaten durch die schwierigen Tage des Kalten Krieges geführt, dabei einen Konflikt mit China vermieden und sein Land in eine Ära des relativen Friedens geführt habe. Wie auch immer – und vielleicht ist es nicht zu ergreifend, dies eine Woche nach Thanksgiving zu sagen – er hatte ein erfülltes Leben, auf das er mit Dankbarkeit zurückblicken konnte. In seinen letzten Tagen war es ihm auch vergönnt, den letzten Aufsatz seiner Karriere über seinen früheren ,,Helden“, Kanzler Metternich, zu schreiben.

 

Bence Kocsev