,,Wir sind nicht nur Geschöpfe der Vergangenheit, sondern auch Schöpfer der Zukunft”, zitierte Balázs Orbán John Lukacs in seiner Begrüßungsrede. Der Politische Direktor des Ministerpräsidenten betonte die Bedeutung des Lernens über die Vergangenheit, das eine moralische Verpflichtung sei, vor allem für diejenigen, die wie die Studierenden und Lehrenden der Universität den Dienst der Öffentlichkeit zu ihrer Berufung gemacht haben. ,,Die nächste Bauphase ist hier, um die Universität auf der internationalen Bühne zu platzieren.” Ihre Aufgabe ist es, die ,,ungarische Stimme” und die geeignete Strategie zur Krisenbewältigung im internationalen Diskurs über die sich verändernde Weltordnung zu vertreten. Statt der ideologischen Wirren der westlichen Zivilisation und ihrer lebensfremden theoretischen Konstrukte gebe es kein besseres Beispiel für die Pflege und Weitergabe von universellem, werthaltigem Wissen über die Vergangenheit als das Erbe von John Lukacs, so der Politiker.
Der Rektor, Gergely Deli, stellte das neu gegründete Institut vor, das aus der Fusion dreier früherer Abteilungen hervorgegangen ist: dem Forschungsinstitut für Amerikastudien, dem Institut für Strategische Studien und dem Forschungsinstitut für Strategische Verteidigung. Seine Aufgabe ist es, das intellektuelle Erbe seines Namensgebers zu bewahren, die strategische Forschung zu koordinieren und eine möglichst aktivere ungarische Beteiligung am internationalen wissenschaftlichen Leben zu fördern. Gergely Prőhle, Direktor des Instituts und der Otto-von-Habsburg-Stiftung, präsentierte dem Publikum eine Auswahl von Fotos der John-Lukacs-Lounge, an deren Einrichtung an der Universität er vor einigen Jahren aktiv mitgewirkt hatte: die Habseligkeiten des Historikers, seine handgefertigten Möbel, seine Medaillen, seine Noten und vor allem seine Bücher, sollten den Studierenden die facettenreiche Persönlichkeit des Historikers näherbringen. Er zeigte auch einen Briefwechsel zwischen Otto von Habsburg und John Lukacs, der wichtige Einblicke in die Vielfalt des amerikanischen konservativen Denkers enthält. Im Namen der Familie begrüßte die in Übersee lebende Annemarie L. Cochrane die versammelten Gäste und würdigte das Andenken an ihren Vater im Rahmen einer Tonaufnahme.
,,Unleserliche Geschichte ist keine Geschichte” – Pál Hatos erinnerte die Zuhörer an die jeweilige Verantwortung, die ein Historiker trägt. Mit den Worten von Johan Huizinga deutete er an, dass wir heutzutage aufgrund der immer stärker mechanisierten Wissenschaftsindustrie mit einer Fülle von historischen Schriften überschwemmt werden, von denen jedoch nur sehr wenige in einer anspruchsvollen, individuellen Art und Weise geschrieben sind, wie sie Lukacs immer angestrebt hat. Für ihn war der Respekt vor der Geschichte eigentlich der Respekt vor der Freiheit, und nicht zufällig war er der Meinung, dass das Wissen in diesem Bereich keine individuelle, sondern eine kollektive Leistung ist; um es mit den Worten von Paul Ricoeur zu sagen: ,,Die Geschichte ist eine unbezahlte Schuld”.
,,Historisches Bewusstsein bedeutet, dass wir lernen, auf unsere eigene moralische Vorstellungskraft zu achten und die Erinnerungen anderer wahrzunehmen, von Dingen, die wir nicht aus erster Hand erfahren haben”, so Jeffrey Nelson in der Einleitung seines Vortrags, in der er einen amerikanischen Historikerkollegen zitiert. John Lukacs‘ bahnbrechendes Werk Historical Consciousness (1968) hat seit seinem Erscheinen das Interesse der amerikanischen konservativen Denker geweckt. Unter Berufung auf das Bild eines gebildeten Historikers blickte der Geschäftsführende Direktor des Russell Kirk Centre zurück auf die Anfänge in dem 18. und 19. Jahrhundert. Er sieht die ,,Reinkarnation” dieser Figur im 20. Jahrhundert im Bild und in der Rolle von T. S. Eliot, George Orwell, G. K. Chesterton, Kirk und Lukacs, deren Berufung es war, ,,die alten Wahrheiten und Rechte”, die Kontinuität und die Beständigkeit gegen die Versuchungen des Fortschritts und der Innovation zu verteidigen. Für Lukacs ist die Geschichtsschreibung ein Akt der Rekonstruktion; eine moralische Tat, die, indem sie das Wort aus dem Griff der Ideologien und des Positivismus befreit, den Leser zu einer neuen Art von Humanismus, einer Art Weisheit in literarischer Form führen kann.
Richard Gamble, Professor am Hillsdale College, berichtet über die Entstehung und Rezeption des Historical consciousness, dass Lukacs während der anderthalb Jahrzehnte, in denen er an dem Buch arbeitete, nur die Meinung einiger weniger guter Freunde einholte – wie Russell Kirk, Dwight Macdonald, George Kennan und Owen Barfield –, die ihn immer wieder davon abhielten, seine Arbeit aufzugeben, die er oft als hoffnungslos empfand. Er ließ sich auch von Werner Heisenberg inspirieren, den er 1962 kennenlernte. Nach ihrem Treffen schrieb er das Manuskript komplett um, wobei er betonte, dass es sich um eine ,,Autobiographie seiner Prinzipien” handele, oder wie er es nannte, eine ,,Autogeschichte”. Eine Durchsicht ihrer Korrespondenz bestätigt, dass das Buch als die intellektuelle Autobiographie des Autors betrachtet werden kann – bis 1967 und der überarbeiteten Ausgabe von 1985, ergänzt durch Reflexionen wie das Confessions of an original sinner und das Last rites. Die genannten Werke befassen sich in erster Linie mit historischen Themen, bieten aber – wie ein aufmerksamer Rezensent feststellte – auch zahlreiche substanzielle philosophische, religiöse, soziologische, psychologische, semantische, biologische und genetische Überlegungen. In einem Brief an Macdonald aus dem Jahr 1963 bezeichnete Lukacs seinen Ansatz als postwissenschaftlich (post-scientific), und sein Buch über die Historizität des Wissens sollte zu einer Vertiefung des Geschichtsbewusstseins beitragen, im Gegensatz etwa zu Spengler oder Toynbee, die lediglich den Horizont des historischen Wissens erweitern wollten. Gamble, der seit langem plant, eine Biographie von Lukacs zu schreiben, sieht die Ambition des Autors von The Historical Consciousness darin, den Menschen im Rahmen eines neuen Humanismus in der heutigen postmaterialistischen, postkartesianischen und postwissenschaftlichen Welt wieder in den Mittelpunkt des Universums zu stellen.
In ihrem Vortrag ordnete Susan Hanssen Lukacs in ein Koordinatensystem ein, das von drei grundlegenden Richtungen der amerikanischen Denkweise im 20. Jahrhundert bestimmt wird. Demnach kam der ungarische Historiker mit der siebten Einwanderungswelle in die Neue Welt, die das dortige wissenschaftliche Leben mit den Leistungen mittel- und osteuropäischer Intellektueller bereicherte, darunter Albert Einstein, Leo Strauss, Hannah Arendt, Jacques Maritain, Czesław Miłosz, Aleksandr Szolzsenyicin, Eric Voegelin und andere. Auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften erneuerten sie das Denken des Kontinents über das Naturrecht. Sie weckten das Interesse an der antiken politischen Philosophie und setzten sich gleichzeitig dafür ein, die christlich-liberale Tradition des Westens zu bewahren, anstatt sie zu überwinden. Die zweite Ideenströmung war der ,,dritte Frühling” der Wiederbelebung des englischen Katholizismus, in dem Christopher Dawson, Mortimer Adler und Graham Greene Lukacs‘ ,,Weggefährten” waren, von denen viele nicht nur in der Literatur erfolgreich waren, sondern auch einen Platz in der Wissenschaft erlangten. Drittens verwies die Referentin auf die konservative Blütezeit der 1980er Jahre, die dank der abgestimmten Politik der angelsächsischen Mächte den Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1990 ermöglichte. Gemeinsam prägten diese Einflüsse das Bild von Lukacs als konservativ-katholischem Intellektuellen, so die Professorin der Universität Dallas.
Wilfred McClay, Professor am Hillsdale College, sprach in einer Videobotschaft über seine persönlichen Erfahrungen mit dem Zelebranten. Er erinnerte sich an ihr Kennenlernen: als Geschichtsstudent an der Johns Hopkins University wurde er gebeten, Lukacs‘ Buch mit dem Titel Outgrowing Democracy. A History of the United States in the Twentieth Century zu rezensieren. Nach der Veröffentlichung des Buches kontaktierte der Autor ihm brieflich und bot ihm später seine Freundschaft an. McClay erinnerte sich daran, dass Lukacs sich selbst als Reaktionär betrachtete und bezeichnete das Bürgertum des 19. Jahrhunderts idealisiert: er dachte, dass es machbar – oder zumindest möglich – sei, durch historisches Bewusstsein zu versuchen, die Uhr zurückzudrehen. Von dem in Spanien geborenen amerikanischen Historiker Georges Santayana lernte er Folgendes: „any tradition is better than any reconstruction”. (,,Jede Tradition ist besser als jede Rekonstruktion”.)
In einer weiteren Videobotschaft erinnerte sich David Contosta, der die Professur von John Lukacs geerbt hat, an den Werdegang des Historikers und die Bedeutung seines Werks anhand einer Vielzahl persönlicher Geschichten, wobei er seine beiden bahnbrechenden Bände Bekenntnisse eines ursprünglichen Sünders und Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts betonte. Er würdigte das Werk seines Vorgängers und lobte nicht nur Lukacs‘ Größe als Historiker, sondern auch seine sprachlichen Qualitäten und seinen Einfallsreichtum und nicht zuletzt seinen Sinn für Humor.
Miklós M. Nagy, der Chefredakteur des Helikon Verlags, kannte Lukacs ebenfalls gut und übersetzte viele seiner Bücher selbst ins Ungarische. In seinem Vortrag wies er nach, dass der Historiker (auch) ein hervorragender Schönschreiber war, und versuchte gleichzeitig zu erklären, warum trotzdem nicht so viele Menschen in Ungarn seine Bücher lesen, wie er es verdient hätte. Nichtsdestotrotz hat sein Schreiben alles: eine Vorliebe für Wortmagie, eine akribische Beobachtung und Beschreibung von Details, eine nuancierte Charakterisierung und einen aphoristischen Stil, die im Ungarischen noch eindrucksvoller sind als im Englischen. Vielleicht ist es das Genre und die politische Uneinordenbarkeit – ein grundsätzlich sympathisches Phänomen, das sich leicht mit der Persönlichkeit und der Biografie des Autors erklären lässt –, die hinter dieser Beobachtung steckt, überlegte M. Nagy.
Während der Gedenkveranstaltung diskutierten die Teilnehmer auch mit den ungarischen Gästen am runden Tisch und reflektierten auf die Gedanken von Lukacs. Die von Ferenc Horkay Hörcher geleitete Gesprächsrunde konzentrierte sich auf die Wertschätzung des Historikers für die Rolle der Persönlichkeit bei der Geschichtsgestaltung. In diesem Zusammenhang untersuchten sie Lukacs‘ Einschätzung der US-Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Leistung bestimmter Präsidenten und Parteien. Sie kamen zu dem Schluss, dass, wenn sie einen einzigen seiner ,,Helden” benennen müssten, würden sie zweifellos Winston Churchill wählen, da er sowohl die Eigenschaften des aristokratischen Politikers als auch des intellektuellen Staatsmannes verkörperte. Laut Universitätsdozent Máté Botos (Katholische Péter-Pázmány-Universität) schätzte Lukacs die Visionen des britischen Politikers und die Aufrichtigkeit von Ronald Reagan, während er dessen populistische Äußerungen scharf kritisierte. Im Hinblick auf die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen hielt es Máté Gali (MCC Schule für Sozialwissenschaften und Geschichte) jedoch für unwahrscheinlich, dass Lukacs für den demokratischen Präsidenten stimmen würde, wenn er könnte.
Der letzte thematische Teil der Veranstaltung, ,,Die Außenseiter der Geschichte: John Lukacs und George F. Kennan”, wurde von dem Philosophen Miklós Pogrányi Lovas eingeleitet. Der leitende Analyst des Zentrums für Grundrechte definierte die sowjetische Politik, die für beide Historiker von grundlegender Bedeutung war, als das Resultat der marxistischen Ideologie, der russischen Denkweise und progressiven Denkens. Tibor Glant, Professor an der Universität Debrecen, beschrieb in seinem Vortrag die Mitglieder der amerikanischen Historikergemeinschaft, die zusammen mit Lukacs aus Ungarn ausgewandert sind. Die Liste der Namen ist lang – István Deák, Péter Sugár, István Várdy, Dénes Sinor, Károly Gáti, Péter Pásztor und andere –, aber über die Herkunftsgemeinschaft hinaus werden auch die unterschiedlichen Schwerpunkte ihrer Karrieren deutlich. Bence Kocsev, Mitarbeiter unserer Stiftung, fragte seine Gesprächspartner auf der Grundlage der Korrespondenz von George F. Kennan und John Lukacs, inwieweit der Status der beiden Männer als Außenseiter ihrer Berufsgilden ein bewusst angenommener oder erzwungener Zustand war. Sie erinnerten sich daran, dass Lukacs immer wieder seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass ein Geisteswissenschaftler nicht spezialisiert sein dürfe, sondern sich in einem breiten Spektrum von Disziplinen bewegen müsse. (Das extremste Beispiel dafür findet sich in seinem jahrzehntelangen Briefwechsel mit Werner Heisenberg.) Er war stets darauf bedacht, sich nicht in eine einzige intellektuelle Gruppe, Strömung oder Schule einordnen zu lassen – und spielte nicht selten seine Rolle aus. In der Diskussion am Runden Tisch wurde deutlich, dass sein Ungarntum, sein Mitteleuropäertum, sein Europäertum und – innerhalb Amerikas – seine lokale Identität in Verbindung mit Philadelphia seinen besonderen Ton, seine Welt und seine historische Vision prägten, die ihn während seiner gesamten Laufbahn bestimmten.
Máté Dömötör spielte auf dem Klavier die Lieblingsmelodien von John Lukacs.
Fotos: Zoltán Szabó